Raphaela Dell

Mit einer Kombination aus Psychologie, Organisationslehre und Methoden aus der Welt der Kultur und der Philosophie, befähigt sie Menschen ihr Potential voll zu nutzen.

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Die neue Sprach- und Gedankenpolizei: Warum wir uns auf das Wesentliche besinnen sollten

Vor kurzem las ich auf LinkedIn einen Artikel, der mich nachdenklich stimmte – und, ich gebe es zu, auch ärgerte. Der Beitrag echauffierte sich über das Wort „Mohrenkopfbrötchen“. Eine Formulierung, die dem Verfasser Anlass bot, uns alle ausführlich zu belehren: Das geht heute nicht mehr. Das darf man nicht sagen. Es ist unzeitgemäß. Sprachlich unsensibel. Rassistisch.

Und während ich diesen Text las, spürte ich ein zunehmendes Unbehagen. Nicht wegen der Diskussion an sich – die Auseinandersetzung mit Sprache und ihren Konnotationen ist wichtig. Sondern wegen der Vehemenz, der moralischen Überhöhung und der fast schon missionarischen Energie, mit der solche Themen heute behandelt werden.

Ich frage mich: Was treibt Menschen an, andere ständig zu belehren, zu korrigieren, ja, zu kontrollieren? Ist es wirklich ein tief empfundenes Bedürfnis, die Welt besser zu machen? Oder steckt dahinter oft eine ganz andere Dynamik: die Unsicherheit über die eigenen Werte und Überzeugungen?

Schranken für die Unsicheren

Die starke Fixierung auf Regeln, Begriffe und Sprachschranken ist aus meiner Sicht ein Symptom. Wer seine Werte wirklich kennt und lebt, braucht keine starre Liste von „guten“ und „bösen“ Wörtern. Werte zeigen sich in Taten, im Umgang miteinander, in der Haltung – und nicht darin, ob man jeden Satz auf potenzielle Stolpersteine prüft.

Ich bin Anfang 60, und ich habe mich mein Leben lang mit Sprache beschäftigt. Manchmal schätze ich auch die derbere, direktere Ausdrucksweise, vor allem in humorvollen Kontexten. Aber eines ist sicher: Die Menschen, die mich kennen, wissen, dass ich sie nicht verletzen will. Sie wissen, dass ich authentisch bin – und dass meine Sprache zwar manchmal rau, aber nie absichtlich verletzend ist. In Beziehungen, die mir wichtig sind, spreche ich immer achtsam. Das gehört für mich zu meinen gelebten Werten. Und dafür brauche ich keine Sprachpolizei, die mir jedes Wort diktiert.

Die Woke-Analogie

Ein ähnliches Phänomen sehen wir in der sogenannten Woke-Bewegung. Der ursprüngliche Kern von „Woke“ war simpel und nachvollziehbar: Es ging um Sichtbarkeit, um den Ausdruck von Perspektiven, die lange ungehört blieben. Doch wie schnell wurden daraus starre Definitionen, strenge Codes und ein regelrechter Glaubenssatz, der auf Abweichung und Andersdenken kaum mehr reagiert als mit Ausgrenzung und Empörung.

Wer so auf die Welt blickt, braucht Schranken, um sich sicher zu fühlen. Wer sich seiner eigenen Werte sicher ist, braucht keine Mauer aus Vorschriften. Vielleicht ist das der Grund, warum mich diese Sprach- und Gedankenpolizei so ermüdet: Sie drückt nicht Stärke aus, sondern Schwäche. Sie zeugt von einer inneren Unsicherheit, die sich nach außen in rigiden Verboten manifestiert.

Die Lehre aus „1984“

An dieser Stelle fiel mir Orwells 1984 ein. Der Roman beginnt mit einer eindrucksvollen Beschreibung der Sprachkontrolle durch das Regime. Die sogenannte „Neusprache“ – Newspeak – wurde entwickelt, um Gedanken einzuengen, abweichende Meinungen unmöglich zu machen. Worte, die für Widerspruch oder Kritik standen, wurden ausradiert, Bedeutungen manipuliert, die Sprache systematisch verengt.

In einer berühmten Passage erklärt Orwell, dass der Zweck von Newspeak darin liegt, die Reichweite des Denkens zu begrenzen. Wenn es keine Worte mehr gibt, um etwas auszudrücken, so die Logik, wird es auch keine Gedanken mehr dazu geben. Oder um es in Orwells eigenen Worten zu sagen:

"Ziel der Neusprache war es, den Akt des Denkens zu begrenzen."

Orwell hat sich mit der Jahreszahl geirrt. 1984 kam und ging, ohne dass wir in dieser Dystopie landeten. Doch heute, unglaubliche 40 Jahre später, scheint er in einer Weise recht zu haben, die ich erschreckend finde. Unsere Debatten drehen sich zunehmend darum, was gesagt werden darf – und was nicht. Und jede Diskussion, jeder Satz scheint unter dem Verdacht zu stehen, ein Angriff zu sein.

Ein Plädoyer für Vertrauen und Offenheit

Vielleicht sollten wir uns alle wieder auf das Wesentliche besinnen: Vertrauen in die Menschen, mit denen wir sprechen. Vertrauen darauf, dass Worte – ja, auch Worte mit Geschichte – oft viel weniger verletzend gemeint sind, als sie empfunden werden. Vertrauen darauf, dass Werte sich nicht in korrekten Begriffen zeigen, sondern im Handeln.

Und vielleicht sollten wir uns selbst auch ein bisschen mehr trauen: Nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, sondern die größere Geschichte zu erzählen. Mit Respekt, mit Offenheit – und manchmal auch mit einem Augenzwinkern.

Denn das ist doch letztlich die wahre Stärke: Sich sicher genug zu fühlen, um auch mal ein „Mohrenkopfbrötchen“ zu sagen – und zu wissen, dass das keinen Menschen weniger wert macht.

 
 
 
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